Neues aus Gesetzgebung und Rechtsprechung: Arbeitsrecht-Newsletter Juli 2024

DANCKELMANN UND KERST-Partner Peter Kiesgen, Rechtsanwalt und Notar, Fachanwalt für Arbeitsrecht, gibt einen Überblick über aktuelle Entwicklungen im Arbeitsrecht aus den Bereichen Gesetzgebung/Vorhaben und Rechtsprechung einschließlich Europarecht und Prozessrecht (Stand Juli 2024).

A. Gesetzgebung / Vorhaben:

Meldung der Europäischen Kommission vom 19.6.2024

Die Kommission hat Leitlinien für die beschäftigungspolitischen Maßnahmen der Mitgliedstaaten im Jahr 2024 vorgeschlagen. Diese Leitlinien, die Teil des Frühjahrspakets des Europäischen Semesters 2024 sind, setzen gemeinsame Prioritäten für die nationalen Beschäftigungs- und Sozialpolitiken, um diese gerechter und integrativer zu gestalten.

Meldung des BMAS vom 19.6.2024

Das Bundesamt für Arbeit und Soziales hat arbeitsrechtliche und arbeitsschutzrechtliche Empfehlungen zur Gestaltung gesunder hybrider Bildschirmarbeit veröffentlicht. Diese wurden in einer Politikwerkstatt mit über 100 Fachexpert*innen erarbeitet. Das BMAS reagiert mit diesen Empfehlungen auf einen Auftrag aus dem Koalitionsvertrag.

B. Rechtsprechung

I. Allgemein

BAG, Urt. v. 20.3.2024 – 5 AZR 234/23, Leitsatz

Eine SARS-CoV-2-Infektion stellt auch bei einem symptomlosen Verlauf eine Krankheit i.S.v. § 3 Abs. 1 EFZG dar. Diese führt zur Arbeitsunfähigkeit, wenn es dem Arbeitnehmer infolge einer behördlichen Absonderungsanordnung rechtlich unmöglich ist, die geschuldete Tätigkeit bei dem Arbeitgeber zu erbringen und eine Arbeitsleistung in der häuslichen Umgebung nicht in Betracht kommt.

BAG, Urt. v. 19.6.2024 – 5 AZR 192/23, Pressemitteilung v. 19.6.2024

Betreiber von Pflegeeinrichtungen i.S.d. vormaligen § 20a Abs. IfSG a.F. durften in der Zeit vom 16. März 2022 bis zum 31. Dezember 2022 nicht gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 geimpfte Mitarbeiter ohne Fortzahlung der Vergütung von der Arbeit freistellen. Ein Anspruch auf Vergütung wegen Annahmeverzugs (§ 615 Satz 1 i.V.m. § 611a Abs. 2 BGB) bestand nicht, da die Mitarbeiter keinen Immunitätsnachweis i.S.d. § 20a IfSG a.F. vorgelegt haben und damit außerstande waren, die geschuldete Arbeitsleistung zu bewirken (§ 297 BGB). Ein Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall nach § 3 Abs. 1 EFZG bei gleichzeitiger krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit scheiterte hingegen am Grundsatz der sog. Monokausalität, denn die Erkrankung war wegen des zugleich fehlenden Immunitätsnachweises nicht die alleinige Ursache für den Verdienstausfall.

Zur Abmahnung dieser Arbeitnehmer waren die Arbeitgeber dagegen nicht berechtigt. Eine Abmahnung soll den Arbeitnehmer grundsätzlich auf eine Verletzung arbeitsvertraglicher Pflichten aufmerksam machen, ihn für die Zukunft zu einem vertragstreuen Verhalten auffordern und ihm mögliche Konsequenzen für den Fall einer erneuten Pflichtverletzung aufzeigen. In der unterlassenen Vorlage eines Immunitätsnachweises (§ 20a Abs. 2 IfSG a.F.) lag keine abmahnfähige Pflichtverletzung. Das in Art. 2 Abs. 1 GG wurzelnde Selbstbestimmungsrecht der im Pflegebereich Tätigen, in freier Entscheidung eine Impfung gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 abzulehnen, sowie deren Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) hatten Arbeitgeber als höchstpersönliche Entscheidung der Arbeitnehmer zu respektieren. Wegen des vom Beklagten zu achtenden besonderen Charakters dieser grundrechtlich geschützten Entscheidung der Klägerin erwies sich die Abmahnung als ungeeignetes Mittel zur Verhaltenssteuerung. Aufgrund der mit ihr verbundenen Gefährdung des Bestands des Arbeitsverhältnisses war sie – anders als der vorübergehende Verlust der Entgeltansprüche für die befristete Dauer der Freistellung – eine unangemessene Druckausübung und damit unverhältnismäßig.

BAG, Urt. v. 21.3.2024 – 2 AZR 79/23, Leitsatz

Fehler bei der Unterrichtung nach § 613a Abs. 5 BGB, die für den Willensbildungsprozess der Arbeitnehmer, ob sie einem Übergang ihres Arbeitsverhältnisses widersprechen, regelmäßig ohne Belang sind, führen nicht dazu, dass die Widerspruchsfrist des § 613a Abs. 6 S. 1 BGB nicht zu laufen beginnt.

II. Europarecht

EuGH, Urt. v. 20.6.2024 - Rs. C-540/22, Pressemitteilung v. 20.6.2024

Eine Maßnahme, wonach in Mitgliedstaaten entsandte Arbeitnehmer nach 90 Tagen eine Aufenthaltserlaubnis einholen müssen, ist nach dem EuGH mit dem Unionsrecht vereinbar. Eine solche Behandlung stelle zwar eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs dar. Sie sei aber geeignet, die Rechtssicherheit für entsandte Arbeitnehmer zu verbessern und damit gerechtfertigt. Zudem werde dadurch sichergestellt, dass die betreffenden Arbeitnehmer keine Gefahr für die öffentliche Ordnung begründen. Die Gebühren, die für die Ausstellung einer Aufenthaltserlaubnis zu entrichten sind, müssten jedoch angemessen sein und annährend denVerwaltungskosten entsprechen, die durch die Bearbeitung eines Antrags auf Erteilung einer solchen Erlaubnis entstehen. Diese Prüfung obliege dem vorlegenden Gericht.

EuGH, Urt. v. 16.5.2024 - Rs. C-673/22

Elternurlaub ist gem. Art. 5 i.V.m. Art. 3 Abs. 1 Buchst. b der RL 2019/1158 eine viermonatige Arbeitsfreistellung von Eltern anlässlich der Geburt oder Adoption eines Kindes zur Betreuung, bevor das Kind ein bestimmtes Alter, das maximal acht Jahre beträgt, erreicht. 
Vaterschaftsurlaub bezeichnet gem. Art. 4 i.V.m. Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der RL 2019/1158 die Arbeitsfreistellung für zehn Arbeitstage für Väter oder – soweit nach nationalem Recht anerkannt – gleichgestellte zweite Elternteile, die anlässlich der Geburt eines Kindes zum Zweck der Betreuung und Pflege genommen werden muss. 

Mutterschaftsurlaub ist gem. Art. 8 der RL 92/85, ein Urlaub für schwangere AN und Wöchnerinnen von mindestens 14 Wochen ohne Unterbrechung, die sich auf die Zeit vor und/oder nach der Entbindung aufteilen.

Der Gerichtshof hat außerdem klargestellt, dass der Elternurlaub und der Mutterschaftsurlaub unterschiedliche Ziele verfolgen. Während der Elternurlaub den Eltern gewährt wird, damit sie sich bis zum Erreichen eines bestimmten Alters um ihr Kind kümmern können, soll der Mutterschaftsurlaub den Schutz der körperlichen Verfassung der Frau und den Schutz der besonderen Beziehung zwischen der Mutter und ihrem Kind während der Zeit gewährleisten, die sich an die Schwangerschaft und Entbindung anschließt, damit diese Beziehung nicht durch die Doppelbelastung aufgrund der gleichzeitigen Ausübung eines Berufs gestört wird.

III. Betriebsverfassungsrecht

LAG Köln, Beschluss v. 16.5.2024 - 9 TaBV 24/24, Pressemitteilung v. 17.5.2024

Eine im Verfahren nach § 100 ArbGG gerichtlich eingesetzte betriebliche Einigungsstelle ist erst mit der formellen Wirksamkeit des arbeitsgerichtlichen Beschlusses wirksam errichtet. Wird sie gleichwohl vorher tätig, kann der Spruch der Einigungsstelle die fehlende Einigung zwischen Betriebsrat und AG nicht durch einen Spruch ersetzen.

IV. Kündigungsschutz

BAG, Urt. v. 23.5.2024 – 6 AZR 155/21, Leitsatz

Der Verstoß des Arbeitgebers gegen die Übermittlungspflicht gemäß § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG führt nicht zur Unwirksamkeit der im Rahmen einer Massenentlassung erklärten Kündigung(en).

LAG Düsseldorf, Urt. v. 21.5.2024 - 3 SLa224/24, Pressemitteilung v. 21.5.2024

Die Kündigungsschutzklage eines Beschäftigten in einem Industriebtrieb blieb vor dem LAG Düsseldorf ohne Erfolg. Die AG war aufgrund ihres Weisungsrechts berechtigt, Rot als Farbe für die Arbeitsschutzhosen vorzuschreiben. Da das Allgemeine Persönlichkeitsrecht des Klägers nur in der Sozialsphäre betroffen war, genügten sachliche Gründe. Diese waren vorhanden. Ein maßgeblicher berechtigter Aspekt war die Arbeitssicherheit. Die AG durfte Rot als Signalfarbe wählen, weil der Kläger auch in Produktionsbereichen arbeitete, in denen Gabelstapler fuhren. Aber auch im Übrigen Produktionsbereich erhöhte die Farbe Rot die Sichtbarkeit der Beschäftigten. Weiterer sachlicher Grund auf Arbeitgeberseite war die Wahrung der Corporate Identity in den Werkshallen. Überwiegende Gründe vermochte der Kläger, welcher die rote Arbeitshose zuvor langjährig getragen hatte, weder schriftsätzlich noch im Termin vorzubringen. Sein aktuelles ästhetisches Empfinden betreffend die Hosenfarbe genügte nicht. Die Interessenabwägung fiel zu Lasten des Klägers aus. Nach zwei Abmahnungen und der beharrlichen Weigerung, der Weisung der Beklagten nachzukommen, überwog trotz der langen beanstandungsfreien Beschäftigungsdauer das Beendigungsinteresse der Beklagten. 

LAG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 4.4.2024 – 5 Sa 894/23, Pressemitteilung v. 12.6.2024

Das LAG Berlin-Brandenburg hat – im Gegensatz zum ArbG Berlin – entschieden, dass die fristlose Kündigung eines in der arabischen Redaktion der Deutschen Welle beschäftigten gehobenen Redakteurs wirksam ist. Der Redakteur sei als sogenannter Tendenzträger verpflichtet gewesen, sowohl bei seiner Arbeitsleistung als auch im außerbetrieblichen Bereich nicht gegen die Tendenz - das heißt die grundsätzlichen Zielsetzungen - der Deutschen Welle zu verstoßen.

Dazu gehörten die Grundsätze, das Existenzrecht Israels nicht in Frage zu stellen und sich gegen Antisemitismus sowie jegliche Versuche, diesen zu verbreiten, einzusetzen. Da derartige Äußerungen eines Redakteurs auch im privaten Bereich geeignet seien, den Ruf der Deutschen Welle als Stimme der Bundesrepublik Deutschland im Ausland zu schädigen, liege eine schwerwiegende Verletzung vertraglicher Nebenpflichten vor, die zum Ausspruch einer fristlosen Kündigung berechtigten. Auch wenn der Redakteur nach Begründung des Arbeitsverhältnisses keine zu beanstandenden Äußerungen mehr veröffentlicht habe, hätten sich die zuvor getätigten und auch nach Begründung des Arbeitsverhältnisses noch öffentlich abrufbaren Äußerungen weiter ausgewirkt. Da der Redakteur aufgrund der Rundfunkfreiheit der Deutschen Welle gemäß Artikel 5 Absatz 1 S. 2 GG gehalten sei, die Tendenz der Deutschen Welle zu wahren, könne er sich für antisemitische und das Existenzrecht Israels leugnende Äußerungen auch nicht mit Erfolg auf seine Meinungsfreiheit nach Artikel 5 Abs. 1 S. 1 GG berufen.

LAG Köln, Urt. v. 19.1.2024 – 7 GLa 2/24, Pressemitteilung v. 10.6.2024

Das Landesarbeitsgericht Köln hat in einem nunmehr veröffentlichen Urteil entschieden, dass der Sonderkündigungsschutz eines sogenannten Vorfeld-Initiators einer Betriebsratswahl nicht per se geeignet ist, einen Weiterbeschäftigungsanspruch im gekündigten Arbeitsverhältnis zu begründen. Vorfeld-Initiatoren sind Arbeitnehmer, die in einem frühen Stadium ihre Absicht zur Gründung eines Betriebsrats in einer notariell beglaubigten Erklärung dokumentieren und entsprechende Vorbereitungshandlungen unternehmen. Das für Vorfeld-Initiatoren geltende Kündigungsverbot in § 15 Abs. 3b KSchG stelle lediglich eine kollektivrechtliche Rechtsposition dar, auf die es bei der durchzuführenden Interessenabwägung nicht ankomme. Die besonderen Kündigungsschutzregelungen für bestimmte Mandatsträger im Rahmen der Betriebsverfassung würden in erster Linie die Wahl der Betriebsverfassungsorgane sowie die Kontinuität ihrer Arbeit sichern. Damit diene § 15 KSchG nicht primär den persönlichen Interessen des erfassten Personenkreises, sondern den kollektiven Interessen der Belegschaft an der unabhängigen Amtsführung des Betriebsrats.

V. Gleichbehandlung

BAG, Urt. v. 25.4.2024 – 8 AZR 140/23, Leitsatz

Die Wiedereinstellung eines Bewerbers, dessen Arbeitsverhältnis aufgrund einer tarifvertraglichen Altersgrenze beendet wurde, kann wegen seines Alters abgelehnt werden, falls ein jüngerer qualifizierter Bewerber zur Verfügung steht. Dies entspricht dem mit der Altersgrenze verfolgten Ziel der ausgewogenen Beschäftigungsverteilung zwischen den Generationen.

LAG Baden-Württemberg, Teilurteil v. 19.6.2024 – 4 Sa 26/23, Pressemitteilung v. 19.6.2024

Steht fest, dass ein Arbeitnehmer im Hinblick auf einen oder mehrere Vergütungsbestandteile niedriger vergütet wurde als diejenige Vergleichsgruppe des anderen Geschlechts, die eine gleiche oder gleichwertige Arbeit verrichtet, muss der Arbeitgeber darlegen und beweisen, dass ausschließlich andere Gründe als das Geschlecht zu einer ungünstigeren Behandlung des Arbeitnehmer geführt haben. Beruft sich der AG darauf, dass die Personen aus der Vergleichsgruppe eine größere Berufserfahrung, eine längere Betriebszugehörigkeit und/oder eine höhere Arbeitsqualität aufwiesen, muss er darlegen, wie er diese Kriterien im Einzelnen bewertet und zueinander gewichtet hat. Gelingen ihm die entsprechende Darlegung und gegebenenfalls der entsprechende Beweis nicht, steht dem Arbeitnehmer eine höhere Vergütung nach Maßgabe des Entgeltgleichheitsgesetzes zu.

VI.Prozessrecht

LAG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 5.6.2024 – 26 Ta (kost) 6015/24, Leitsatz

Wird eine außerordentliche Kündigung in engem zeitlichen und inhaltlichen Zusammenhang mit einer ordentlichen Kündigung ausgesprochen und folgt zu einem späteren Zeitpunkt eine weitere ordentliche Kündigung, verringert nicht allein die Existenz der ersten - mit der außerordentlichen Kündigung in zeitlichem Zusammenhang ausgesprochenen - ordentlichen Kündigung den Streitwert unter den Betrag, der anzusetzen wäre, wenn zunächst nur eine außerordentliche und deutlich später eine ordentliche Kündigung ausgesprochen worden wäre.

BAG, Beschluss v. 25.4.2024 - 8 AZN 833/23, Leitsatz

Nach der Verkündung des Urteils kann ein am Urteil beteiligter Richter nur bezogen auf noch zu treffende weitere Entscheidungen abgelehnt werden. Ein auf die Verhinderung der Absetzung des bereits verkündeten Urteils zielendes Ablehnungsgesuch ist im arbeitsgerichtlichen Verfahren grundsätzlich unzulässig.

VII. Urlaubsrecht

BAG, Urt. v. 19.6.2024 – 5 AZR 167/23, Pressemitteilung v. 19.6.2024

Hat ein Arbeitgeber einen Arbeitnehmer, der während der Geltungsdauer des vormaligen § 20a IfSG a.F. die in Abs. 1 aufgestellten Voraussetzungen nicht erfüllte, von der Erbringung der Arbeitsleistung freigestellt, sind die Zeiten dieser unbezahlten Freistellung bei der Berechnung des Jahresurlaubs zu berücksichtigen. Dem Arbeitnehmer steht nur ein anteilig kürzerer Urlaubsanspruch zu. Der Erholungszweck des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub beruht nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union auf der Prämisse, dass der Arbeitnehmer im Lauf des Bezugszeitraums tatsächlich gearbeitet hat. Etwas anderes gilt nur, wenn der Umstand, dass der Arbeitnehmer nicht gearbeitet hat, allein auf Entscheidungen des Arbeitgebers beruht, was hier nicht der Fall ist.



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