Neues aus Gesetzgebung und Rechtsprechung: Arbeitsrecht-Newsletter Juni 2023

DANCKELMANN UND KERST-Partner Peter Kiesgen, Rechtsanwalt und Notar, Fachanwalt für Arbeitsrecht, gibt einen Überblick über aktuelle Entwicklungen im Arbeitsrecht aus den Bereichen Gesetzgebung/Vorhaben und Rechtsprechung einschließlich Europarecht und Prozessrecht (Stand Juni 2023).

A) Gesetzgebung / Vorhaben:

Kabinett beschließt Rentenwertbestimmungsverordnung

Pressemitteilung des BMAS vom 26.04.2023

Das Bundeskabinett hat am 26.04.2023 die vom BMAS vorgelegte Rentenwertbestimmungsverordnung beschlossen. Danach steigen die Renten zum 1. Juli 2023 in Westdeutschland um 4,39 Prozent und in den neuen Ländern um 5,86 Prozent. Wegen der höheren Lohnsteigerung im Osten wird die Rentenangleichung Ost ein Jahr früher erreicht als gesetzlich vorgesehen. Damit gilt ab 1. Juli 2023 in West und Ost ein gleich hoher aktueller Rentenwert.

B) Rechtsprechung

I. Allgemein

Keine Verlängerung des befristeten Arbeitsvertrags aufgrund einer einsatzabhängigen Verlängerungsklausel

BAG, Urt. v. 24.05.2023 - 7 AZR 169/22, Pressemitteilung vom 24.05.2023

In Arbeitsverträgen mit Profifußballern sind Vertragsklauseln geläufig, nach denen sich der für eine Spielzeit befristete Arbeitsvertrag um eine weitere Spielzeit verlängert, wenn der Vertragsspieler auf eine bestimmte (Mindest-)Anzahl von Spieleinsätzen kommt. Eine solche einsatzabhängige Verlängerungsklausel ist nicht dahin ergänzend auszulegen oder anzupassen, dass im Hinblick auf das pandemiebedingte vorzeitige Ende der Spielzeit 2019/2020 in der Fußball-Regionalliga Südwest der Vertrag sich bei weniger als den festgelegten Einsätzen verlängert.

Fristlose Kündigung und Annahmeverzug

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 29. März 2023 – 5 AZR 255/22 –, Pressemitteilung vom 29.03.2023

Kündigt der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis fristlos, weil er meint, die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses sei ihm nicht zuzumuten, bietet aber gleichzeitig dem Arbeitnehmer „zur Vermeidung von Annahmeverzug“ die Weiterbeschäftigung zu unveränderten Bedingungen während des Kündigungsschutzprozesses an, verhält er sich widersprüchlich. In einem solchen Fall spricht eine tatsächliche Vermutung dafür, dass das Beschäftigungsangebot nicht ernst gemeint ist. Diese Vermutung kann durch die Begründung der Kündigung zur Gewissheit oder durch entsprechende Darlegungen des Arbeitgebers entkräftet werden.

Kündigungen der an „wilden Streiks“ beteiligten Rider der Gorillas wirksam

LAG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 25.4.2023 - 16 Sa 868/22, 16 Sa 869/22 und 16 Sa 871/22, Pressemitteilung v. 28.04.2023

Das LAG Berlin-Brandenburg hat in zwei Verfahren entschieden, dass die durch den Lieferdienst Gorillas erklärten fristlosen Kündigungen gegenüber als Fahrradkurieren (sog. Rider) beschäftigten AN wirksam waren. Beide Rider hatten sich im Oktober 2021 an einem „wilden“ Streik beteiligt und in diesem Zusammenhang fristlose Kündigungen erhalten. Das LAG hat die Beteiligung an den „wilden“ Streiks als erhebliche arbeitsrechtliche Pflichtverletzungen bewertet und ist davon ausgegangen, dass die nicht gewerkschaftlich organisierte Protestaktion nicht als zulässige Ausübung des Streikrechts gemäß Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG zu beurteilen sei, dies auch nicht unter Berücksichtigung von Teil II Art. 6 Nr. 4 der Revidierten Europäischen Sozialcharta (RESC).

II. Europarecht

Zulässigkeit eines Verbots betreffend das Tragen jedes sichtbaren Zeichens politischer, religiöser oder weltanschaulicher Überzeugungen am Arbeitsplatz

EuGH, Schlussanträge des Generalanwalts Collins vom 04.05.2023, Rs. C-148/22, Pressemitteilung v. 4.5.2023

Der EuGH muss sich im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens mit der Frage befassen, ob eine öffentliche Einrichtung ihren Bediensteten unter bestimmten Voraussetzungen das Tragen jedes sichtbaren Zeichens politischer, religiöser oder weltanschaulicher Überzeugungen an ihrem Arbeitsplatz verbieten darf. Der Generalanwalt Collins kam hierbei - wie der EuGH in seinem Urteil vom 13.10.2022 (Rs. C-344/20 (siehe NL Oktober 2022)) - zum Ergebnis, dass eine solche Regelung bei allgemeiner und unterschiedsloser Anwendung keine unmittelbare Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung i.S.d. Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der RL 2000/78 darstelle, da in einem solchen Fall bereits keine Ungleichbehandlung vorliege.

Eine mittelbare Ungleichbehandlung könne jedoch dann vorliegen, wenn die dem Anschein nach neutrale Verpflichtung tatsächlich dazu führe, dass Personen mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung oder sogar eines bestimmten Geschlechts in besonderer Weise benachteiligt werden, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts sei.

Im Rahmen der danach zu prüfenden Rechtfertigung einer solchen möglichen Ungleichbehandlung hat der Generalanwalt aber dann ausgeführt, dass die Schaffung einer politischen, weltanschaulichen und religiösen Neutralität grundsätzlich ein rechtmäßiges Ziel darstelle und geeignet sei, eine solche Ungleichbehandlung zu rechtfertigen.

III. Prozessrecht

Abgestufte Darlegungslast beim Streit über das Vorliegen einer neuen Erkrankung i.S.v. § 3 Abs. 1 S. 1 und S. 2 EFZG unions- und verfassungskonform

BAG, Urt. v. 18.1.2023 - 5 AZR 93/22, Leitsatz

Die Abstufung der Darlegungslast beim Streit über das Vorliegen einer neuen Erkrankung i.S.v. § 3 Abs. 1 S. 1 und S. 2 EFZG, wonach der AN Tatsachen vorzutragen hat, die den Schluss erlauben, es habe keine Fortsetzungserkrankung bestanden, begegnet weder unions- noch verfassungsrechtlichen Bedenken. Dem steht nicht entgegen, dass der hiernach erforderliche Vortrag im Regelfall mit der Offenlegung der einzelnen zur Arbeitsunfähigkeit führenden Erkrankungen im maßgeblichen Zeitraum verbunden ist.

IV. Sozialrecht

Corona-Infektion als Arbeitsunfall?

SG Speyer, Urt v. 9.5.2023 - S 12 U 88/21, Pressemitteilung v. 9.5.2023

Das SG hat entschieden, dass die Anerkennung eines Arbeitsunfalles einen nachgewiesenen intensiven Kontakt mit einer infizierten Person voraussetze. Da die Symptome bei Covid-19 unspezifisch seien, sei der Nachweis einer Infektion der in Frage kommenden Indexperson grundsätzlich durch einen zeitnahen Erreger-Nachweistest zu erbringen. Lasse sich aber bezüglich der Kontakte im versicherten Umfeld ein Nachweis, dass es sich um infektiöse Quellen handelt, nicht erbringen, könne auf den bloßen Verdacht allein die Wahrscheinlichkeit eines Kausalzusammenhanges nicht gestützt werden. Für eine Beweislastumkehr bei allgemeinem Infektionsrisiko siehe das Sozialgericht keine Veranlassung.



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