EuGH entscheidet: Urlaubsansprüche Scheinselbstständiger verfallen nicht. Rechtsanwalt Stickler erläutert die Entscheidung des EuGH:

Der Urlaubsanspruch eines scheinselbstständigen Arbeitnehmers verfällt nicht, wenn er den Jahresurlaub aus nicht von ihm zu vertretenden Gründen nicht nehmen konnte.

Die Problematik der Scheinselbstständigkeit ist ein immer wieder auftretendes Problem, mit welchem sich Arbeitsgerichte auseinanderzusetzen haben. Stellt ein Gericht fest, dass ein Fall der Scheinselbstständigkeit gegeben ist, stehen dem betroffenen (scheinselbstständigen) Arbeitnehmer alle Rechte zu, die für einen Arbeitnehmer aus einem Arbeitsverhältnis heraus entstehen. Hierzu zählt auch der Anspruch auf bezahlten Erholungsurlaub. Nach dem Bundesurlaubsgesetz verfällt der Urlaubsanspruch eines Arbeitnehmers normalerweise, wenn dieser nicht bis zum Ende des Kalenderjahres in Anspruch genommen wurde. Der EuGH sieht dies bei scheinselbstständigen Arbeitnehmern anders.

Der EuGH hatte darüber zu entscheiden, ob ein Mitarbeiter eines britischen Unternehmens, für das er über 13 Jahre lang auf Provisionsbasis tätig war und dessen Vertragsverhältnis als Selbstständiges-Dienstverhältnis bezeichnet wurde, einen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub hat. Da er während seiner Beschäftigung von seinem Arbeitgeber als Selbstständiger eingeordnet worden war, erhielt er nur unbezahlten Urlaub.

Der Kläger ging im Jahr 2012 in den Ruhestand und machte nach Beendigung seines Beschäftigungsverhältnisses die Vergütung für den genommenen Urlaub und die Abgeltung für den nicht in Anspruch genommenen Urlaub für die gesamte Dauer seiner dreizehnjährigen Tätigkeit gerichtlich geltend.

Das britische Arbeitsgericht legte dem EuGH zwei Fragen (sinngemäß zusammengefasst) zur Vorabentscheidung vor:

  1. Muss ein Arbeitnehmer seinen Urlaub in Anspruch nehmen, um feststellen lassen zu können, ob er für diesen Urlaub Anspruch auf Vergütung hat?
  2. Kann ein Arbeitnehmer, der seine Urlaubsansprüche über einen längeren Zeitraum wegen der Weigerung des Arbeitgebers, den Urlaub zu vergüten, nicht geltend gemacht hat, am Ende der Beschäftigung Vergütungs- und Abgeltungsansprüche geltend machen und zwar unabhängig von etwaigen Verfallsklauseln in den nationalen Urlaubsgesetzen?

Das oberste rechtsprechende Organ der EU urteilte, dass die Ansprüche auf Urlaub nicht verfallen sind. Der Arbeitgeber ist verpflichtet, einen Arbeitnehmer in die Lage zu versetzen, seinen Urlaubsanspruch ausüben zu können. Steht dem Arbeitnehmer diese Möglichkeit nicht zu, kann er nicht genommenen Urlaub übertragen und ansammeln. Der Arbeitgeber haftet dann für die finanziellen Folgen.

Der EuGH begründete seine Entscheidung damit, dass der Arbeitgeber bei der Beschäftigung eines Scheinselbstständigen nicht durch eine Begrenzung der Ansprüche geschützt werden müsse. Der Arbeitgeber müsse die Folgen dafür tragen, dass er den Arbeitnehmer nicht in die Lage versetzte, seinen Jahresurlaub nehmen zu können.

Ferner haben die Richter festgellt, dass es mit Unionsrecht nicht vereinbar ist, wenn der Arbeitnehmer seinen Jahresurlaub in Anspruch nehmen müsse, um feststellen zu können, ob er für den Urlaub einen Anspruch auf Bezahlung hat. Dies folgt aus dem Grundsatz, dass der Urlaub zur Erholung des Arbeitnehmers dienen soll. Besteht jedoch Unsicherheit darüber, ob der Urlaub bezahlt wird, sei dies ein Grund, den Urlaub nicht zu nehmen. Somit sei die Erholung für den Arbeitnehmer nicht möglich.

Die Entscheidung des EuGH ist für selbständig tätige Arbeitnehmer, bei denen die Gefahr einer Scheinselbstständigkeit besteht, sowie für „Arbeitgeber“, die sich selbstständiger Mitarbeiter zur Erfüllung ihrer Aufgaben bedienen, gleichermaßen von Bedeutung. Für den Arbeitgeber besteht offensichtlich die Gefahr, dass er im Falle der Beschäftigung scheinselbstständiger Arbeitnehmer, neben der Nachzahlung von Sozialversicherungsbeiträgen, auch zur Nachzahlung von Urlaubsansprüchen in Anspruch genommen werden kann. Wie im Fall des EuGH können, gerade bei einer langjährigen Beschäftigung, hohe Nachzahlungen für den Arbeitgeber entstehen. Für scheinselbstständige Arbeitnehmer bietet die Entscheidung die Grundlage für die Inanspruchnahme des ehemaligen „Arbeitgebers“ auf Nachzahlung vorenthaltener Urlaubsansprüche.

Es ist daher dringend dazu zu raten, Unklarheiten bezüglich der Beschäftigung „Selbstständiger“ durch rechtliche Überprüfung zu beseitigen und, sofern es nötig ist, die erforderlichen Maßnahmen zu ergriffen, um hohe Kostennachzahlungen zu vermeiden.

Entscheidung: EuGH, Urteil vom 29.11.2017 in der Rechtssache C-214/16 Conley King / The Sash Window Workshop Ltd.



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